Imaginäre Brücke zwischen A. und B., 2017

I
Im Jahr 1430 AH/ der Hidschra (arab. هجرة Flucht (eigentliche Wortbedeutung: Auswanderung, Auszug)
Draußen spielten نور (Licht) und خيال (Schatten) miteinander. أربعة buk Kuchen und wie so oft hörte sie dabei Radio.

Ihre Hände arbeiteten in stiller Gewohnheit, so konnte sie ihre Aufmerksamkeit ganz dem Gesprochenen widmen. أربعة hörte gerne Nachrichten. Allerdings fand sie, dass die Beiträge zu aktuellen und historischen Widerstandskämpfen aus allen Himmelsrichtungen sich am besten eigneten sich selbst und die Welt nach ihnen zu richten. 

Heute wurde aus jenem Jahrzehnt des vergangenen Jahrhunderts berichtet, in dem ihre Großeltern geboren wurden. Eine Stadt namens B. sei damals in Ost und West aufgeteilt worden, in einem Land, das fast ein halbes Jahrhundert lang ebenfalls nur diese zwei Himmelsrichtungen zu kennen schien. Über dem Westen der Stadt seien damals Rosinen und andere Süßigkeiten aus Flugzeugen Verbündeter abgeworfen worden.

أربعة schaute aus dem Fenster auf die betonierte Straße wo – wie fast immer – gerade die Kinder der Nachbar*innen spielten. „Wie das wohl wäre, nicht einkaufen gehen zu können und darauf warten zu müssen, dass das Essen vom Himmel fällt?“, fragte sie sich. Sie glaubte an Allah, aber das schien ihr doch eine harte Probe zu sein.

Bewusst holte sie sich aus ihren Gedanken zurück, spürte die Rosinen in ihrer Hand und das wachsende Kind in ihrem Bauch. Sie dankte ihren Eltern, Groß- und Urgroßeltern für den geduldigen Anbau und die liebevolle Ernte der Früchte und Allah für den fruchtbaren Boden, für die Sonne und den Regen.

II

Im Jahr 1433 AH/ der HidschraDraußen lag die Straße im Staub und أربعة buk Kuchen.

Ihre Hände übten sich in ungewöhnlicher Unruhe. Seit einiger Zeit wurde der Name ihrer Stadt, die für das Radio jahrzehntelang nicht zu existieren schien, in den stündlichen Nachrichten so häufig genannt, dass es unmöglich schien, sich aus dieser wegzudenken.

Ihre Stadt hieß A.. Im Osten der Stadt wohnten أربعة und ihr Mann براء mit ihrem dreijährigen Sohn Bersoum. Zur Feier des Geburtstages des Erstgeborenen und in freudiger Erwartung der kurz bevorstehenden Geburt dessen ersten Geschwisterchens sollte die ganze Familie zusammen kommen.

„Vor Jahren habe ich von einer Stadt namens B. gehört …“, begann أربعة als ihre Geschwister, Eltern, Groß- und Urgroßeltern beisammen saßen und sich darüber amüsierten, wie ihr Sohn sich nur die Rosinen aus dem Kuchen pickte. Sie war bekannt dafür, dass sie gerne Geschichten erzählte. Manchmal scherzte ihr Mann, dass die Familie eigentlich kein Radio mehr brauche, weil أربعة selbst die langweiligsten Beiträge in so spannende und lehrreiche Geschichten umzuwandeln wusste, dass die ganze Familie lieber ihr zuhörte.

III

Im Jahr 1436 AH/ der Hidschra

Draußen fielen ein paar Regentropfen auf den kalten Beton und أربعة buk.

Ihre Hände arbeiteten gegen die Stille an, während ihre Gedanken noch dem Gehörten nachhingen. Das Radio hatte sie ausgeschaltet um Batterien zu sparen. Um ihre beiden Kinder kümmerten sich ihre Eltern für ein paar Stunden, um sie zu entlasten. So kurz vor der Geburt ihres dritten Kindes und angesichts der neuesten Entwicklungen in ihrer Stadt ging أربعة der Beitrag noch viel mehr als damals schon nahe.

[…]

أربعة (Arba) wurde als Արսինե Արմենուհի براء Եվա Աղետեան (Arsine Armenuhi Baraa Yewa Aghetyan) geboren. Der eigentliche Kosename „Arwa“, ergibt sich aus der ersten Silbe ihres ersten Vornamens und der letzten Silbe ihres letzten Vornamens. Da dieser dem arabischen Wort Arba (Vier) ähnelt, kennen die meisten Menschen sie nur unter diesem Namen.

Imaginäre Brücke zwischen A. und B. [Auszug], 2017

Imaginäre Brücke zwischen A. und B. [Auszug] vorgetragen bei der Lesebühne Schöneberg am 23. November 2017:

Videoaufnahme: (C) Mit freundlicher Genehmigung von Frank Walnuss.